Holakratie als Antwort auf eine Sklerose

30. April 2024 durch
Administrator

Interview mit Professor Dr. Michael Zirkler, ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften)



Im März traf sich der Produktbeirat für Magile, unsere Allroundsoftware für agile Organisationen, zur konstituierenden Sitzung. Wir sprachen mit Beiratsmitglied Professor Dr. Michael Zirkler. Der Experte für Organisationsentwicklung und -beratung warnt davor, Arbeitsprozesse ausschließlich durch die Effizienzbrille zu betrachten.


Du bist viel beschäftigt in Forschung und Lehre. Weshalb hast du dich darüber hinaus bereiterklärt, Produktbeirat für Magile zu werden?

Weil ich überzeugt bin, dass Software den Menschen helfen kann, Arbeitsprozesse zu gestalten. Magile legt eine bestimmte Art des Arbeitens nahe, indem es Selbstmanagement fördert und vorsieht, Aufgaben agil zu erledigen. Wenn Organisationen sich mit Magile auseinandersetzen, hilft ihnen das, besser zu verstehen, wie sie arbeiten können und wollen. Die Software kann als organisatorischer Fitnesstracker dienen. Das gefällt mir.


Was nimmst du mit aus der Demo? Was war dir neu? Wie wirkten die Features auf dich?

Ich konnte gut nachvollziehen, dass es sich bei Magile um eine integrierte Lösung handelt, die verschiedene Aspekte abdeckt – von der Organisation über das Projektmanagement bis zur Protokollierung von Meetings. Allerdings ist die Anwendung recht anspruchsvoll. Man muss sich mit Agilität und Scrum sehr gut auskennen, um sich sämtliche Funktionen der Software zunutze zu machen oder Projekte und Teams richtig anzulegen. Es hängt vom Reifegrad einer Organisation ab, wie stark sie von der voraussetzungsreichen Software profitiert. Eine Möglichkeit wäre, die User innerhalb der Software mit Widgets oder Ähnlichem stärker zu führen.


Wie beurteilst du Magile aus der Perspektive der User?

Da mit Magile vom Auftragseingang bis zur Rechnung alles in einer Lösung möglich ist, liegen die Effizienzpotenziale auf der Hand. Eine Herausforderung sehe ich darin, dass Menschen – aus guten Gründen – eben nicht immer an Effizienz interessiert sind. Sie wollen Gestaltungräume für ihre „Eigenheiten“ und das steht häufiger im Widerspruch zur Effizienz aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Möglicherweise haben sie auch Angst um ihren Arbeitsplatz, Effizienzsteigerungen können hier als Bedrohung wahrgenommen werden. Insofern kann eine Software, die stark in Arbeitsprozesse eingreift, disruptiv wirken.


Als Wissenschaftler gehst du unter anderem der Frage nach, wie moderne Führung „geht“. rising systems versteht sich als holakratische Organisation. Wie schätzt du Holakratie ein?

Ich sehe Holakratie als Antwort auf eine Sklerose, die sich in der Arbeitswelt über Jahrzehnte ausgebreitet hat. Hierarchie, Bürokratie, Prozesse, Weisungen, Regeln und so weiter – viele Unternehmen sind unbeweglich geworden. Organisationen drehen sich oft um sich selbst. Das sieht man auch daran, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer mehr Zeit für nicht wertschöpfende Tätigkeiten verwenden (müssen).

Holakratie als Form der Selbstorganisation ist eine interessante Alternative. Führung wird von Führungskräften zu Systemen verlagert. Das bringt allerdings den Nachteil mit sich, dass schwer zu erkennen ist, wer die Verantwortung für eine Entscheidung trägt. Da der klassische Vorgesetzte fehlt, wird es schwierig, jemanden „haftbar“ zu machen. Ich halte

Holakratie für einen Ansatz mit Potenzial, der hohe Ansprüche an Organisationen stellt und voraussetzungsreich ist.


Wie gelingt es Teams, sich ohne klassische Führungsrollen selbst zu organisieren? Wann gelingen, wann scheitern solche Modelle?

Wenn wir Arbeit organisieren, geht es neben anderen wichtigen Dingen vor allem immer um Menschen, obwohl die Holakratie, jedenfalls zu Beginn, den Menschen aus der Gleichung eigentlich herausnehmen wollte. Effizienz kann da nur ein Aspekt sein. Produktivität muss erweitert verstanden werden. Sie ist nicht nur Beiwerk. Neben einer wirtschaftlichen hat eine soziale Produktivität hohe Bedeutung. Also: Wie geht es mir in meinem Team? Welche Rolle und welchen Status habe ich dort? Werde ich unterstützt und kann ich andere unterstützen, arbeitsbezogen sowie bei Alltagsherausforderungen? Kann ich mich entwickeln? Das sind nur einige der Fragen.

Modelle der nicht-hierarchischen Steuerung sozialer Systeme sind eigentlich schon lange bekannt. Man weiß Einiges darüber, wie sie funktionieren. Sie sind jedoch oder waren in den Kontexten, in denen das Wirtschaftliche im Vordergrund steht, lange keine Option. Das hat wesentlich mit den Vorstellungen von Wirtschaft einerseits zu tun, andererseits aber auch damit, dass die hierarchischen Modelle sehr lange – und zwar auch bei den Mitarbeitenden – eingeübt und ja auch nach wie vor in vielen Zusammenhängen sehr funktional sind.

Man darf sich nicht täuschen: Soziale Systeme kommen ohne eine Form der Führung nicht aus. Auch bei Modellen der Selbstorganisation wird geführt, nur eben anders. Teams mit Mitgliedern, welche eine vergleichsweise hohe Egosättigung aufweisen, haben bessere Chancen mit Selbstorganisationsmodellen auszukommen und erfolgreich zu sein. Ebenso wie Teams, bei denen die Mitglieder ihren jeweils spezifischen Beitrag zur Gesamtwertschöpfung – und eben nicht nur einer wirtschaftlichen – erkennen und leisten können.

Der Holakratie kann ich viel abgewinnen, weil sie eine Möglichkeit bietet, Arbeit und Menschen auf eine andere Weise in Zusammenhang zu bringen. Und ihr Vorteil ist, dass sie quasi als Gesamtpaket daherkommt und vergleichsweise gut erlernbar ist. Man muss also Arbeitsprozesse und -kulturen nicht selbst und neu erfinden, da es bereits ein System gibt. Allerdings kann das gerade wieder ein Nachteil sein. Insofern wäre es mir wichtig,

dass Organisationen genau prüfen, was sie mit Hilfe der Holakratie eigentlich erreichen wollen. Das wäre ein guter Anlass für eine Organisationsentwicklung. Am Ende geht es mir darum, dass Organisationen nicht einfach Moden kopieren und Holakratie unreflektiert übernehmen, weil es gerade en vogue ist.


Danke für diese differenzierte Einschätzung. Ihr wollt mehr über New Work erfahren und, wie Michael sie einschätzt? Hier könnt ihr seinen aktuellen Fachbeitrag zum Thema lesen und als PDF herunterladen.



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